Die Entscheidung zwischen Abriss und Sanierung eines bestehenden Gebäudes ist komplex und erfordert eine differenzierte Betrachtung verschiedener Aspekte, die weit über rein ökonomische Überlegungen hinausgehen. Angesichts der drängenden Herausforderungen des Klimawandels, der Ressourcenknappheit und des Bedarfs an nachhaltigen Lösungen sprechen zahlreiche Argumente entschieden gegen den Abriss und für die Ertüchtigung des Bestandes.
1. Nachhaltigkeit: Graue Energie als entscheidendes Argument
Das wohl gewichtigste Argument gegen den Abriss ist die sogenannte graue Energie. Dies ist die Energie, die für die Herstellung, den Transport, den Einbau, die Instandhaltung und den Abriss von Bauteilen sowie die Aufbereitung der Materialien aufgewendet wird. Ein bestehendes Gebäude „speichert“ bereits eine enorme Menge grauer Energie. Ein Abriss vernichtet diese und erfordert die Neuinvestition dieser Energie für den Neubau, selbst wenn dieser nach höchsten Energiestandards errichtet wird. Studien belegen, dass die graue Energie eines Neubaus oft erst nach Jahrzehnten durch den geringeren Betriebsenergieverbrauch kompensiert werden kann. Die Sanierung hingegen erhält diesen „Energiespeicher“ und reduziert den Bedarf an neuen Materialien und den damit verbundenen Energieaufwand erheblich.
Darüber hinaus trägt der Erhalt von Gebäuden zur Reduzierung von Bauschutt bei, der eine massive Belastung für Deponien darstellt und wertvolle Ressourcen verschwendet. Kreislaufwirtschaftliche Ansätze, die im Gebäudebestand oft leichter umzusetzen sind, gewinnen hier an Bedeutung.
2. Moderne Architekturprinzipien: Respekt vor dem Vorhandenen
Moderne Architektur muss nicht zwangsläufig Neubau bedeuten. Vielmehr entwickeln sich zunehmend Prinzipien, die den Respekt vor dem Vorhandenen und die Weiterentwicklung des Bestandes in den Mittelpunkt stellen. „Reuse, Reduce, Recycle“ findet seine Entsprechung in architektonischen Ansätzen, die die Qualitäten alter Bausubstanz erkennen und neu interpretieren. Dies kann die Bewahrung von Identität und Geschichte eines Ortes bedeuten, die Schaffung von Vielfalt im Stadtbild und die Nutzung des Charmes alter Gebäude, der durch Neubauten oft nicht reproduziert werden kann. Innovative Architekten sehen im Bestand eine Leinwand für kreative Lösungen, die historische Elemente mit zeitgenössischen Anforderungen verbinden und so einzigartige hybride Strukturen schaffen.
3. Ökonomische und soziale Aspekte: Mehr als nur Baukosten
Während auf den ersten Blick ein Neubau günstiger erscheinen mag, müssen die tatsächlichen Gesamtkosten einer Abriss-Neubau-Strategie genau betrachtet werden. Dazu gehören nicht nur die reinen Baukosten, sondern auch:
- Entsorgungskosten des Bauschutts: Diese sind erheblich und steigen stetig.
- Kosten für die Baustellenlogistik: Abriss und Neubau sind oft aufwendiger und kostenintensiver in der Logistik als eine Sanierung.
- Soziale Kosten: Ein Abriss kann zu Gentrifizierung führen, gewachsene Strukturen zerstören und Bewohner verdrängen, was langfristig soziale Spannungen erzeugen kann. Die Sanierung kann hingegen zur Stabilisierung von Quartieren beitragen.
- Wertschöpfung vor Ort: Sanierungsprojekte generieren oft mehr lokale Wertschöpfung, da sie häufig kleinere, regionale Handwerksbetriebe beauftragen.
4. Autarkie und Resilienz: Die Chance der Bestandssanierung
Der Bauen im Bestand bietet hervorragende Möglichkeiten, Gebäude in Richtung Autarkie und erhöhter Resilienz zu entwickeln:
- Photovoltaik (PV): Dachflächen im Bestand können oft problemlos für die Installation von Photovoltaikanlagen genutzt werden. Dies ermöglicht die Eigenstromerzeugung und reduziert die Abhängigkeit von externen Energieversorgern.
- Solarthermie: Ebenso kann Solarthermie zur Warmwasserbereitung und Heizungsunterstützung integriert werden, was den Bedarf an fossilen Brennstoffen weiter minimiert.
- Eisspeicher: Eisspeicheranlagen, die Wärme aus dem Erdreich oder der Umgebungsluft entziehen und zur Heizung oder Kühlung nutzen, sind auch im Bestand oft realisierbar. Sie erhöhen die Energieeffizienz und ermöglichen eine nahezu autarke Wärmeversorgung.
- Regenwassernutzung und Grauwasserrecycling: Bestehende Gebäude können relativ einfach mit Systemen zur Regenwassernutzung für die Gartenbewässerung oder Toilettenspülung ausgestattet werden. Auch Grauwasserrecycling (Wiederaufbereitung von leicht verschmutztem Wasser aus Duschen, Bädern etc.) kann den Frischwasserverbrauch erheblich senken.
Durch die Kombination dieser Technologien kann ein bestehendes Gebäude nicht nur energetisch auf den neuesten Stand gebracht werden, sondern sogar eine Vorreiterrolle in Sachen Energieautarkie und Ressourceneffizienz einnehmen.
Fazit
Die Argumente gegen den Abriss und für das Bauen im Bestand sind vielfältig und überzeugend. Sie reichen von der dringend notwendigen Reduzierung der grauen Energie und der Vermeidung von Bauschutt über die Bewahrung der Identität und Geschichte unserer Städte bis hin zur Schaffung von energieautarken und resilienten Gebäuden. Die Sanierung ist nicht nur eine nachhaltigere, sondern oft auch eine wirtschaftlich und sozial vorteilhaftere Option. Es ist an der Zeit, den Fokus von der reinen Neuschöpfung auf die intelligente Weiterentwicklung und Wertschätzung dessen zu legen, was bereits existiert. Bauen im Bestand ist somit nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine Chance für eine nachhaltige Zukunft.
Quellen und weiterführende Literatur:
Solarthermie | Bundesverband Solarwirtschaft
Verbraucherzentrale – Graue Energie:
Klimafreundlich bauen und sanieren – Ratgeber-Verbraucherzentrale.de
Schweizer Energieagentur für die Wirtschaft (EnAW) und ähnliche Publikationen zur Grauen Energie:
graue Energie von Neubauten – BFE Publikationen
EnAW in Zahlen 2023 | Energie-Agentur der Wirtschaft
Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB):
DGNB Publikationen und Downloads
DGNB: Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen
Umweltbundesamt (UBA) – Nachhaltiges Bauen:
Nachhaltiges Bauen – Umweltbundesamt | Für Mensch und Umwelt
Bundespreis UMWELT & BAUEN 2025 nimmt Bauen im Bestand in den Fokus
Kommission Nachhaltiges Bauen am Umweltbundesamt (KNBau)
Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) – Umbau und Erweiterung:
BDA – Projekte zum Thema Umbau/Erweiterung (Beispiele) (Dies ist ein Beispiel für Projekte im Umbau und Erweiterung)
Erweiterung und Umbau der Schule an der Eierkampstraße, Dortmund
Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE – Publikationen:
Veröffentlichungen – Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE
Forschen für die Energiewende – Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE
Bundesverband Solarwirtschaft e.V. (BSW-Solar) – Photovoltaik und Solarthermie:
Solarthermie-Publikationen – Bundesverband Solarwirtschaft
Eisspeicher:
Viessmann (Hersteller und Technologieanbieter):
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